
Leipziger Internetzeitung vom 15. Mai 2019: „Leipzig soll Bürgerhaushalt einführen“

Katja Kipping hält es für möglich, Armut komplett zu überwinden. Das sagte die Bundesvorsitzende der Linken auf einem Forum ihrer Partei in der katholischen Kirche in Leipzig-Schönefeld.
Katja Kipping, die Bundesvorsitzende der Partei die Linke. Quelle: Foto: Armin Kühne
Leipzig
Armut hat viele Gesichter. Da sind sich Kirche und Linke einig, die zur gemeinsamen Diskussion „Vor Armut schützen und Reichtum begrenzen“ in die katholische Kirche „Heilige Familie“ am Donnerstag in Schönefeld geladen hatten. „Wir erleben in Deutschland eine deutliche Verfestigung von Armut“, konstatierte Katja Kipping, die Bundesvorsitzende der Partei Die Linke.
Das habe etwas mit materiellen Entbehrungen zu tun, aber auch mit sozialer Ausgrenzung und fehlenden Chancen, an der Gesellschaft teilzuhaben. So könnten viele Familien sich nicht mal einen einwöchigen Campingurlaub leisten oder jeden Tag ihre Wohnung ordentlich heizen. Viele trotz Arbeit! Die meisten sind in der Statistik gar nicht erfasst.
Dennoch können sie es sich beispielsweise nicht leisten, ihre Kinder auf die Musikschule zu schicken, ein Instrument zu erlernen. „Es gibt eine große Gruppe in der Bevölkerung, die halten Armut in unserem reichen Land für die Schuld der Betroffenen. Die müssten sich eben nur mehr anstrengen“, ergänzte Propst Gregor Giele von der katholischen Trinitatis-Pfarrei. „Es gibt aber eine strukturelle Armut, die in vielen Fällen unverschuldet ist.“
Pfarrer Andreas Dohrn, der für die Grünen in den Stadtrat einziehen will, sprach mit Blick auf Leipzig sogar von einem „Halbmond der Armut“, der sich durch Stadtteile zieht. Dieser startet in Grünau, geht weiter über Lindenau und Kleinzschocher, über Mockau und Möckernbis hin nach Neustadt-Neuschönefeld und Paunsdorf.
Dies sei an den statistischen Daten abzulesen. Am stärksten betroffen seien Arbeiterfamilien mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Wohnungslose, kinderreiche Familien und Alleinstehende. Um Wohnungslosen zu helfen, könne in Leipzig beispielsweise das Konzept „housing first“ umgesetzt werden. Dieser Ansatz kommt aus der US-amerikanischen Sozialpolitik und ist ein Gegenkonzept zur Notunterbringung.
Menschen, die auf der Straße leben oder besondere Problemlagen aufweisen (Drogenabhängigkeit, psychische Erkrankungen) sollten nicht zuerst verschiedene Notunterbringungsstationen durchlaufen, sondern bekommen sofort eine Wohnung und eine adäquate soziale Betreuung zur Seite gestellt. „Da kann sich Leipzig mal anstrengen.“
Nikolaikirchenpfarrer Bernhard Stief, der auch die Heilig-Kreuz-Kirche am Neustädter Markt betreut, sagt: „Wir müssen Reichtum anders einsetzen und wieder lernen, zu teilen und mit unserem Besitz Gutes zu tun.“ Es gehe wenigen Menschen auf der Welt so gut wie in Deutschland.
Da könne es nicht sein, dass in Neustadt-Neuschönefeld mehr als 40 Prozent aller Kinder unter 15 Jahre vom Sozialgeld leben müssen. „Es ist eine Riesenherausforderung, dies zu ändern.“ Etwa 73.000 Leipziger, so Linken-Stadtrat Steffen Wehmann, seien abgehängt und direkt von Armut betroffen.
Doch wie wäre das zu ändern? „Wir sind grundsätzlich dafür, wieder eine Vermögenssteuer einzuführen“, so Wehmann. Die habe sich auch in anderen europäischen Ländern bewährt. „Es ist möglich, Armut komplett zu überwinden“, betonte Kipping. Notwendig sei aus Sicht der Linken eine „sanktionsfreie Mindestsicherung“, um auch gleichzeitig die Angst vor Jobverlust zu überwinden, ein höherer Mindestlohn sowie eine Mindestrente, die nicht unter 1050 Euro im Monat liegt.
Auch Leipzig könne einiges tun, etwa indem Vereine und andere Initiativen unterstützt werden, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern. Giele: „Armutsbekämpfung ist ein gesellschaftliches Problem – nicht zuerst ein staatliches.“
Von Mathias Orbeck
Viele halten ein 365-Euro-Ticket für unbezahlbar, doch SPD und Linke wollen es möglichst schnell in Leipzig einführen. Beide haben jetzt dafür einen gemeinsamen Antrag im Stadtrat gestellt. Die Details.
Viele wollen den neuen Fahrschein, doch die Infrastruktur der LVB – hier die große Abstellhalle im Straßenbahnhof Angerbrücke – ist nicht für einen großen Fahrgastansturm ausgelegt. Quelle: Dirk Knofe
Leipzig
Jetzt proben Linke und SPD im Stadtrat den Schulterschluss, um ein 365-Euro-Jahresticket für den öffentlichen Nahverkehr auf den Weg zu bringen: Beide Fraktionen haben am Freitag im Rathaus einen gemeinsamen Prüfauftrag für die Einführung des Fahrscheins vorgelegt. Er sehe gute Chancen, dieses Angebot in der nächsten Legislaturperiode des Stadtrates einzuführen, erklärte SPD-Fraktionsvorsitzender Christopher Zenker – also bis zum Jahr 2025.
Zenker betonte, die SPD-Fraktion sei auf die Linke zugegangen, um den Gemeinschaftsantrag auf den Weg zu bringen. „Wir wollen zeigen, dass es sich nicht nur um Wahlkampfgetöse geht“, erklärte er. Auch er habe sich vor zwei Jahren dieses Ticket noch nicht vorstellen können. Aber mit Blick auf den Klimawandel und hohe Förderquoten durch den Kohleausstieg sei es jetzt möglich geworden. Stadtrat Steffen Wehmann(Linke) betonte, seine Fraktion bemühe sich „nicht erst seit gestern oder vorgestern“ um niedrige Preise im Nahverkehr.
Beide Fraktionen fordern jetzt von Oberbürgermeister Burkhard Jung(SPD), dass er bis Jahresende ein Konzept für die Einführung des Tickets ab Januar 2021 vorlegt, mit dem man praktisch für einen Euro am Tag Leipzigs gesamtes Nahverkehrsangebot nutzen kann. Jung soll auch ermitteln lassen, welche Angebotserweiterungen im Nahverkehrerfolgen müssen und wie viele Kunden die Leipziger Verkehrsbetriebe(LVB) mit dem Ticket zusätzlich gewinnen können. Auch die finanziellen Auswirkungen der Angebots- und Ticketoffensive soll der OBM kalkulieren, ein entsprechendes Finanzierungskonzept für den Zeitraum 2021 bis 2030 vorlegen sowie mit Land und Bund Fördermöglichkeiten ausloten.
„Das Ticket wird nicht von heute auf morgen möglich“, betonte Stadtrat Reiner Engelmann (Linke). Zunächst müssten die Voraussetzungen für die Mitnahme von deutlich mehr Fahrgästen geschaffen werden. Die LVB sollten dafür zunächst „ihre Hausaufgaben“ machen, also den Fahrermangel in den Griff bekommen, pünktlicher verkehren und keine Fahrten mehr ausfallen lassen. Außerdem müssten die LVB „Ordnung in ihren Laden“ bringen und ihre „aufgebauschte Struktur“ aus vielen Teilfirmen wieder zurückfahren, so Engelmann.
Der Jurist und SPD-Stadtratskandidat Henrik Fischer skizzierte Vorstellungen für eine baldige Busnetzreform: Es sollten neue Express-Busse eingesetzt werden, die nur die Knotenpunkte des Nahverkehrsverbinden, hieß es. Entlang des Tangentenvierecks müssten weiter Buslinien entstehen. Auch auf allen Hauptachsen der Straßenbahn sollten mehr Bahnen verkehren und so die Fahrtakte verdichten; neue Straßenbahnstrecken und -linien müssten ebenfalls geplant und gebaut werden. Reiner Engelmann kritisierte, dass die Straßenbahnstrecken in der August-Bebel-Straße und in der Goethestraße aufgegeben wurden und forderte noch vor der Einführung des neuen Jahresfahrscheins einen Fünf-Minuten-Takt auf allen Hauptstrecken.
Stadträtin Franziska Riekewald erklärte, dass der OBM Verhandlungen mit den Bürgermeistern aller umliegenden Gemeinden aufnehmen sollte, damit Leipzigs künftiges 365-Euro-Ticket auch dort genutzt werden kann. Stadtrat Heiko Oßwald hofft, dass solche Angebotsverbesserungen so viele zusätzliche Fahrgäste in den Nahverkehr locken, dass diese Fahrgasteinnahmen die finanziellen Ausfälle durch den günstigen Fahrschein „weitestgehend kompensieren“.
Erste Reaktionen auf diesen Vorstoß gab es von FDP und AfD. Stadtrat Sven Morlok nannte den Antrag einen billigen Wahlkampftrick. „Man verpackt das Ganze in einen netten Prüfauftrag und will dann den Wählern zwei Wochen vor der Stadtratswahl verkaufen, man habe die Einführung des 365-Euro-Tickets durchgesetzt“, so der Liberale. Stadtrat Christian Kriegel (AfD) sieht die Notwendigkeit eines 365-Euro-Tickets, macht aber die Linken und die SPD für die unzureichende Infrastruktur der LVB verantwortlich. „Von beiden Fraktionen sitzen vier Stadträte im Aufsichtsrat der LVB; sie hätten längst eingreifen und das Unternehmen auf finanziell solide Beine stellen müssen“, erklärte er. „Dann hätten wir jetzt nicht diese Probleme. Sie sind hausgemacht.“
Von Andreas Tappert
Statement zu meiner Anfrage zum Thema der Entwicklung des „realen Haushaltsnettoeinkommens in Leipzig“ von 2000- 2017:
Leider ist das reale Haushaltsnettoeinkommen ( die Kaufkraft , d.A.) der Leipzigerinnen und Leipziger in den letzten 17 Jahren fast nicht gestiegen. Es beträgt durchschnittlich 1.631 Euro, d.h. nur ganze 42 Euro monatlich mehr stehen den Haushalten in Leipzig im Durchschnitt an Kaufkraft seit 2000 mehr zur Verfügung. Zum Vergleich: In Dresden beträgt das reale Haushaltsnettoeinkommen 1.809 Euro (plus 11 %), in Chemnitz 1.768 Euro ( plus 8 %) monatlich. Das zeigt auch, dass die bessere wirtschaftliche Entwicklung Leipzigs der letzen Jahre bei vielen Leipzigerinnen und Leipziger leider nicht im Geldbeutel ankommt. Leipzig boomt, allerdings gewiss beim realen Einkommen nicht.
Steffen Wehmann